Dienstag, 19. November 2013

Und sie bewegt sich doch ...

Mit Papst Franziskus zeigt sich für alle Welt wahrnehmbar ein neuer Stil päpstlichen Auftretens. Wie ist es aber mit den Inhalten? Bleibt alles beim Alten oder bringt Franziskus Neues auf den Weg? Stellt man die Kirchenbilder von Benedikt und Franziskus nebeneinander, so zeigen sich markante Unterschiede. Das von Franziskus artikulierte Kirchenverständnis ist als jesuanisch zu kennzeichnen.


Mit der Amtsniederlegung Benedikts XVI. im Februar 2013 endete eine lange kirchliche Ära – beginnend mit der Wahl des polnischen Kardinals Karol Wojtyla zum Papst im Jahr 1978 -, die vor allem durch das Zusammenwirken von Johannes Paul II. mit dem Präfekten der Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger, ab dem Jahr 1982 gekennzeichnet war. In diesem Zeitraum zog Rom die Entscheidungsmacht in der katholischen Kirche an sich, unterband jeglichen Diskurs über zentrale Inhalte der kirchlichen Lehre und setzte seine apodiktisch von oben vorgegebene Linie rigoros durch. Insbesondere steuerten Johannes Paul II.  und Joseph Ratzinger  - später Benedikt XVI. - durch machtbewusste Personalpolitik die Neubesetzung sämtlicher höherer kirchlicher Ämter und formten auf diese Weise die Kirche nach ihrem Bilde.

Wenn Jorge Mario Bergoglio SJ in seiner Ansprache im März 2013 während des Vorkonklaves die auf sich selbst bezogene Kirche kritisiert und von Missständen spricht, die sich in den kirchlichen Institutionen entwickelt haben, so kann man davon ausgehen, dass er an erster Stelle die vatikanische Kurie mit ihrer unzeitgemäßen Struktur und ihren selbstreferenziellen Prozeduren meint, aber sicher auch jene Ortskirchen für die die Selbstherrlichkeit des Limburger Bischofs Tebartz-van Elst ein Paradebeispiel ist.

Franziskus’ Kritik bleibt allerdings nicht auf der Ebene von Strukturen und Organisationsformen stehen, sondern zielt tiefer auf den Kern des Verkündigungsauftrages der Kirchen. Um was es hier geht, wird am deutlichsten, wenn man die Leitbilder von Benedikt und Franziskus kontrastierend nebeneinander stellt. Beiden Päpsten geht es um eine Differenz zur Welt, wofür der plakative Begriff der „Entweltlichung“ steht, und beide predigen „Gott ist die Liebe“. Allerdings entspringen aus dem gemeinsamen Ausgangspunkt völlig unterschiedliche Handlungsstrategien.

Benedikt XVI. versteht sich als Bewahrer und Sicherer des „depositum fidei“, des Schatzes des Glaubens und der katholischen Tradition. Die katholischen Glaubenswahrheiten sieht er von innen durch Relativierer bedroht, die „sich vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin-und-hertreiben-lassen“ (18.04.2005) und von außen durch die hedonistische Gesellschaft, der nichts heilig ist, und deren Gottvergessenheit gewaltinduzierendes Potential aufbaut. Bleibt man im - vom Dekan des Kardinalkollegiums, Joseph Ratzinger, in seiner Predigt kurz vor dem Konklave 2005 gezeichneten - Bild von Kirche als Schifflein, das in stürmischer See von den Wogen des Zeitgeistes zum Schwanken gebracht wird, so liegen die von der Kirchenführung zu ziehenden Konsequenzen auf der Hand: Die „Segel reffen, die Luken schließen, die Bordwände erhöhen, sich abschließen gegen die Gefahr von draußen.“ (Drobinski, SZ 28.03.2013) Phantasiert man entlang der nautischen Metapher weiter, so taucht als archetypisches Bild die Arche Noah auf, die sich der Sintflut der feindseligen Moderne entzieht und bekanntlich nur ein einziges Fenster hat, das nach oben gerichtet ist. Die von Benedikt repräsentierte Kirche ist allerdings nur zur einen Hälfte hermetische Kirche, die nach außen abgeschottet und auf sich selbst bezogen ist, zur anderen Hälfte ist sie „ecclesia triumphans“, triumphierende Kirche, die „mit zeremonieller Pracht, mit Goldbrokat, Edelsteinen, viel Purpur in byzantinischem Ornat, mit Heerscharen fein herausgeputzter Messdiener und lateinischer Messe“ (Thomas Assheuer, in: Die Zeit, Nr.44) sich glanzvoll inszeniert. Rom ist gemäß diesem Selbstverständnis der Leuchtturm, der wider alle Finsternis der Welt sein nie erlöschendes Licht ausstrahlt.

Während wir bei Benedikt auf eine jahrzehntelange kirchenpolitische Entwicklung zurückschauen können, ist Papst Franziskus noch kein Jahr im Amt. Es sind aber bereits markante Eckpunkte erkennbar. Kardinal Jorge Mario Bergoglio sprach im Vorkonklave Anfang März 2013 weniger als fünf Minuten, aber diese Zeit genügte, um der Generalkongregation einen Gegenentwurf zu Benedikts Kirchenverständnis vor Augen zu führen. Er kritisiert die um sich selbst kreisende Kirche, die die Form heiligt (M. Drobinski) und in der „die einen die anderen beweihräuchern“ (Bergoglio). Und der Kardinal scheut sich nicht, Jesus ins Spiel zu bringen, und kommt auf Kapitel 3 Vers 20 der Offenbarung des Johannes zu sprechen: „Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten.“ Dieser Jesus wäre von der mondänen Kirche für sich vereinnahmt worden, so dass es zu der pervertierten Situation kommt, dass „Jesus von innen klopft, damit wir (die egozentrische Kirche, Verf.) ihn herauskommen lassen.“ Dieser Verkehrung müsse entgegengetreten werden, indem die Kirche aus sich selbst heraus und an die Ränder geht, „an die Grenzen der menschlichen Existenz: die des Mysteriums der Sünde, die des Schmerzes, die der Ungerechtigkeit, die der Ignoranz, … die jeglichen Elends.“
Im August bringt dann Bergoglio – jetzt als Papst Franziskus - im Interview mit Antonio Spadaro SJ dezidiert zum Ausdruck, dass es unzureichend ist, wenn die Kirche die Menschen nur einlädt: „Statt nur eine Kirche zu sein, die mit offenen Türen aufnimmt und empfängt, versuchen wir, eine Kirche zu sein, die neue Wege findet, die fähig ist, aus sich heraus und zu denen zu gehen, die nicht zu ihr kommen, die ganz weggegangen oder die gleichgültig sind.“

Am 13. März 2013 wurde der bisherige Erzbischof von Buenos Aires und Primas von Argentinien zum Papst gewählt und machte bereits durch sein allererstes Erscheinen auf der Loggia des Petersdomes in schlichter weißer Soutane und mit seiner Wahl des Papstnamens Franziskus deutlich, in welche Richtung er die Kirche führen wird. Konkreter wird das vier Tage später, als Franziskus vor Journalisten zum einen äußert „Ach, wie sehr möchte ich eine arme Kirche und eine Kirche für die Armen!“ und zum zweiten, dass er bei seiner Namenswahl daran gedacht habe, „dass Franziskus ein Mann des Friedens ist, der uns den Geist des Friedens gibt, der Mann, der die Schöpfung liebt und bewahrt.“ Der 85-jährige Hans Küng benennt in seiner Abschiedsrede im April 2013 anlässlich einer Preisübergabe der Herbert-Haag-Stiftung neben der Armut und Schlichtheit die Demut (Humilitas) als drittes franziskanisches Kernanliegen. Eine demütige, von franziskanischem Geist geprägte Kirche ist „eine Kirche der Menschenfreundlichkeit, des Dialogs, der Geschwisterlichkeit und Gastlichkeit auch für Nonkonformisten.“(Küng) Papst Franziskus erträumt sich im schon erwähnten Interview eine menschenfreundliche Kirche „als Mutter und als Hirtin. Die Diener der Kirche müssen barmherzig sein, sich der Menschen annehmen, sie begleiten - wie der gute Samariter, der seinen Nächsten wäscht, reinigt, aufhebt. … Die Diener des Evangeliums müssen in der Lage sein, die Herzen der Menschen zu erwärmen, in der Nacht mit ihnen zu gehen. Sie müssen ein Gespräch führen und in die Nacht hinabsteigen können, in ihr Dunkel, ohne sich zu verlieren.“

Am Abend seiner Wahl wandte sich Franziskus von der Loggia aus als Bischof von Rom an die auf dem Petersplatz versammelte Diözesangemeinschaft: „Beginnen wir mit diesem gemeinsamen Weg … in Brüderlichkeit, Liebe und Vertrauen zwischen uns allen.“  Wenn der Pontifex anschließend von „großer Brüderlichkeit“ spricht, so ist das alles andere als ein Lippenbekenntnis, denn wenige Momente später sagt er: „Zuerst bitte ich Euch aber um einen Gefallen. Bevor der Bischof das Volk segnet, bitte ich Euch, dass Ihr zum Herrn betet, dass er mich segne, dass der Herr seinen Bischof segnet.“ Durch diesen Akt vermittelt Franziskus sein Verständnis von Kirche als Volk Gottes, wonach alle Getauften am Priestertum Christi teilhaben und füreinander Segen sein können. In der Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ des II. Vaticanums wurde Kirche auch als pilgerndes Volk Gottes verstanden, wodurch insbesondere die Gemeinschaft aller in der Kirche und ihre fundamentale Gleichheit vor Gott zum Ausdruck gebracht wird. Wie wichtig Papst Franziskus das Konzil der 1960er Jahre ist, lässt sich dem Interview mit der italienischen Tageszeitung „La Repubblika“ entnehmen. „ Das Zweite Vatikanische Konzil beschloss, die Zukunft mit einem modernen Geist anzusehen und sich der modernen Kultur zu öffnen. Die Väter des Konzils wussten, dass das Ökumene und Glaubensdialog bedeutete. Seitdem ist in dieser Richtung wenig geschehen. Ich bin so bescheiden und so ehrgeizig, das wieder zu tun.“

In einer weiteren Perspektive des Kirchenverständnisses von Franziskus erscheint Kirche als Therapeutikum. Er skizziert dies im Interview mit Antonio Spadaro SJ. „Ich sehe ganz klar, dass das, was die Kirche heute braucht, die Fähigkeit ist, Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen - Nähe und Verbundenheit. Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht. Man muss einen Schwerverwundeten nicht nach Cholesterin oder nach hohem Zucker fragen. Man muss die Wunden heilen. Dann können wir von allem anderen sprechen.“ Wie das geht, führt Franziskus aller Welt vor Augen. Er wäscht am Gründonnerstag jungen Strafgefangenen die Füße, darunter eine Muslima. Er begibt sich im Juli nach Lampedusa, an den Ort, der paradigmatisch für Europas Umgang mit Flüchtlingen steht, bekundet seine Solidarität mit den Migranten und prangert die „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ an.  Am 6. November umarmt und streichelt er einen entstellten Mann, dessen Haut von Beulen und Warzen übersäht war.

Ich fasse zusammen: Kirche ist für Franziskus die „Gemeinschaft des Gottesvolks …, der Priester, der Gemeinden, der Bischöfe.“ (Interview, La Repubblika) Diese Communio ist geschwisterlich in dialogischem Austausch auf dem Weg und ist als Gesamtheit der „Gläubigen … unfehlbar im Glauben.“ (Interview, Spadaro) Sie orientiert sich am franziskanischen Leitbild von Armut, Schlichtheit und Demut. Sie ist nicht selbstreferenziell, sondern sucht diejenigen auf, die am Rande stehen und hilfs-, schutz- und trostbedürftig sind. Aus meiner Sicht ist die Kirche des Franziskus jesuanisch, denn sie stellt „die Verkündigung der  heilbringenden Liebe Gottes“ über alles andere. Diese „muss der moralischen und religiösen Verpflichtung vorausgehen. Heute scheint oft die umgekehrte Ordnung vorzuherrschen.“ (Interview, Spadaro)


Stefan Schopf für die Ausgabe 33 der Jugendstil, 19.11.2013